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Rede von Dieter Reicherter bei der 288. Montagsdemo

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Dieter Reicherter, ehem. Staatsanwalt und Vorsitzender Richter a. D., auf der 288. Montagsdemo am 14.9.2015

Fünf Jahre Strafvereitelung

Liebe Freundinnen und Freunde,
schön, dass ich wieder einmal zu Euch sprechen darf. Vielen Dank dafür an unser Demoteam, welches mir ermöglicht, an die Versäumnisse unserer Justiz zu erinnern und Wege aufzuzeigen, was wir jetzt – fünf Minuten vor zwölf – noch tun können. Das will ich verbinden mit einer Einladung an Euch alle, am kommenden Mittwoch, dem 16.9.2015, an unserem zweiten Bürgertribunal im Heslacher Alten Feuerwehrhaus teilzunehmen. Näheres könnt Ihr den Flyern entnehmen, die hier verteilt werden.

„Fünf Jahre Strafvereitelung“, das mir vorgegebene Thema, klingt brutal. Das ist es auch. Am 30.9.2010 kam es zu zahlreichen Übergriffen und Rechtsverletzungen durch staatliche Organe gegen friedliche Bürgerinnen und Bürger. Sie wurden bis heute nicht aufgeklärt und gesühnt. Was mich persönlich dabei am meisten bedrückt, sind Gewaltorgien gegen Kinder und Jugendliche. Angefangen von frechen Rempeleien von getarnten Polizisten bis zum massenhaften Einsatz von Pfefferspray und Wasserwerfern gegen Kinder und Jugendliche – eigentlich der Polizei streng verboten, uneigentlich zugelassen und gedeckt von Führungskräften bis hin zum damaligen Polizeipräsidenten Stumpf – inzwischen vorbestrafter Pensionär, und von Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler – weiterhin nicht vorbestrafter Pensionär.

Der Vorwurf der Strafvereitelung hat viel damit zu tun, ob Straftaten von Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt und aufgeklärt werden, und wie lange das überhaupt möglich ist. Und da muss ich Euch kurz ins Strafgesetzbuch entführen. Keine Angst, es dauert nicht lang und tut nicht weh! Nach § 78 des Strafgesetzbuches können „Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind“, nach Ablauf von fünf Jahren nicht mehr verfolgt werden. Das gilt zum Beispiel für Körperverletzung im Amt und Nötigung, also Delikte im Zusammenhang mit dem Schlossgarteneinsatz.

Die Juristen nennen diese Regelung „Verfolgungsverjährung“. Der Gedanke hierbei ist natürlich, dass Polizei und Justiz fünf Jahre lang Zeit, Gelegenheit und Verpflichtung zur Aufklärung von Straftaten hatten. Deshalb sind die Möglichkeiten, nach Ablauf dieser fünf Jahre solche Straftaten noch verfolgen zu können, gering. Diese Möglichkeiten nennt man „Unterbrechung der Verjährung“. Nach § 78 c Strafgesetzbuch kann die Unterbrechung erfolgen durch die erste Vernehmung eines Beschuldigten und sogar schon durch die Bekanntgabe, dass gegen ihn ein Verfahren eingeleitet ist, außerdem durch einen richterlichen Beschlagnahme- oder Durchsuchungsbeschluss.

Nach diesem Ausflug in die Theorie zurück zur Praxis, zur bislang nicht geleisteten Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Gerichte muss ich hier ausnehmen, denn sie werden erst tätig, wenn die Staatsanwaltschaft Beschuldigte anklagt oder richterliche Maßnahmen beantragt, was sie fast ausnahmslos nicht getan hat.
Dazu will ich Euch einen konkreten Fall erzählen: Der vierzehnjährige Richard hat am 30.9.2010 an der Schülerdemonstration teilgenommen und war wie viele Schülerinnen und Schüler danach im Schlossgarten. Dort wurde er an Leib und Seele verletzt. Die körperlichen Wunden sind verheilt, die seelischen nicht. Seine Geschichte will er nicht mehr erzählen, als Zeuge nicht auftreten. Seine Eltern haben mir aber vor Jahren Richards schriftliche Schilderung mit seinem Einverständnis zur Verfügung gestellt. Diese haben wir beim ersten Bürgertribunal vor vier Jahren, nämlich am 29.9.2011, verlesen. Die Aussage ist in unserem Buch „Schwarzer Donnerstag – Wir klagen an“ abgedruckt. Die Staatsanwaltschaft hat dieses Buch – es könnte ja Dienstgeheimnisse enthalten – pflichtgemäß ausgewertet. Hier ein wörtlicher Auszug aus Richards Aussage: „Ich wurde von einem Polizisten am Kopf gepackt, er zog mich an sich heran und rieb mir mit der Hand (trug Handschuhe die innen mit Metall oder ähnlichem beschlagen waren!!) das Pfefferspray brutal ins Gesicht. …. Ich fürchtete, dass er meine Nase brechen würde, ist einigen Schülern passiert; schreien konnte ich nicht, weil mir der Mund dabei zugehalten wurde.“

Weil diese Aussage keinerlei Ermittlungen zur Folge hatte, habe ich selbst nachgeforscht. Dabei kam mir der Zufall zu Hilfe in Gestalt eines Videos, das seit nahezu fünf Jahren bei Polizei und Staatsanwaltschaft vorliegt, ohne für die Übeltäter Konsequenzen zu haben. Gegen unbekannte Polizeibeamte habe ich nun deswegen in der vergangenen Woche Strafanzeige wegen Verabredung eines Verbrechens erstattet. Denn wie anders soll man folgenden in der Bild- und Tonaufzeichnung festgehaltenen Dialog werten: 1. Sprecher (mit bayrischem Dialekt): „Könnt Ihr mol Pfefferspray in die Handschuhe und ins Gesicht reiben.“ 2. Sprecher: „Ja.“

War das nicht die Verabredung, entgegen sämtliche Dienstvorschriften, Pfefferspray nicht durch Versprühen mit Sicherheitsabstand einzusetzen, sondern mit dem Handschuh in den Gesichtern friedlicher Demonstranten zu verreiben? In meiner Strafanzeige habe ich darauf hingewiesen, dass eine derartige Verwendung von Pfefferspray die Gefahr von Erblindung und bei Allergikern und Asthmakranken sogar des Todes durch Ersticken in sich trägt; ganz abgesehen davon, dass der Einsatz von Pfefferspray gegen Kinder ausnahmslos verboten ist und Verstöße gegen dieses Verbot schon harte Strafen zur Folge haben müssten.

Ich bin gespannt, was die Staatsanwaltschaft zu meiner Anzeige meint, und werde Euch auf dem Laufenden halten. Überhaupt die Staatsanwaltschaft: Muss man sie zum Jagen tragen? Und hilft das Tragen überhaupt? Oder holen wir uns dabei einen Bandscheibenvorfall? Nahezu fünf Jahre lang hat diese Behörde behauptet, im Schlossgarten sei fast alles nach Recht und Gesetz abgelaufen. Hunderte von Stunden Film- und Fotomaterial der Beweisdokumentationstrupps der Polizei mit Pfeffersprayeinsätzen gegen Kinder und Jugendliche, Wasserstößen in Kopfhöhe und anderen Grausamkeiten führten nicht zur Ermittlung und Verfolgung der Straftäter in Uniform, obwohl beispielsweise der Kriminalbeamte Hirschmüller, wie er mir erzählte, eine Aufstellung derartiger Übergriffe für Oberstaatsanwalt Häußler gefertigt hatte. Offenbar erfolglos. Wenn Übergriffe hieb- und stichfest dokumentiert waren, konnten die vermummten Täter in Uniform angeblich nicht ermittelt werden. Herr Kretschmann, wo bleibt da eigentlich die im Frühjahr 2011 von Ihnen versprochene Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte?

Ansonsten gab es ein paar kleine Hansel, die Bauernopfer spielen mussten; vor allem Mitglieder der Wasserwerferstaffel. Gegen die Großen und Mächtigen wurde gar nicht erst ermittelt. Einzig gegen zwei Einsatzabschnittsleiter wurde – offensichtlich als Reaktion auf öffentlichen Druck – letztendlich Anklage erhoben, allerdings nur wegen eines kleinen Teils der Vorwürfe. Der sogenannte Wasserwerferprozess beim Landgericht Stuttgart endete dann allerdings kläglich. Einziges positives Ergebnis war, dass die Erkenntnisse aus dem Prozess zur Vorstrafe für den erwähnten Pensionär Stumpf führten. Er hatte übrigens immer behauptet, alles richtig gemacht zu haben. In dieser Haltung fand er sich bestätigt durch denjenigen, der am 30.9. eigentlich hätte aufpassen sollen: Oberstaatsanwalt Häußler.

Stumpf ist weg, Häußler ist weg, Justizminister Stickelberger ist immer noch da. Ob der gegenüber der Staatsanwaltschaft weisungsbefugte Minister sich endlich doch noch bereitfindet, für die Einleitung objektiver Ermittlungen vor eingetretener Verjährung zu sorgen, oder froh ist, wenn die Strafvereitelung dauerhaft Erfolg hat, ist die Frage. Antworten und konkrete Schritte wollen wir finden bei unserem zweiten Bürgertribunal nächsten Mittwoch.

Macht alle mit, damit wir oben bleiben!


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